Am Bühnenrand
Hans-Joachim Müller
Am Meer, in der Wüste vielleicht, unter der Weite des Wolkenhimmels verfiele niemand auf die Idee, dass hier der Mensch fehlen könnte. Unendliche Räume sind unbewohnbare Räume. Um wohnen zu können, braucht der Mensch Dach und Wände. Und das Gefühl der Unendlichkeit ist nur ein anderes Wort für den Schauder vor der Dach- und Wandlosigkeit des Daseins. Ein Schauder aber, nichts weniger, wenn Dach und Wände von menschengemäßer Wohnbarkeit zeugen, und doch kein Mensch da ist, der in den Wohnungen wohnen wollte.
Man betritt die Bildwelt, in die Martin Kasper führt, nicht ohne jenen leisen Schauder, der sich immer dann ins Staunen mischt, wenn die Bewohnbarkeit von Räumen nicht ganz gewiss scheint und immer ungewisser wird, je deutlicher sich die feinen Risse zeigen, die die Wohlordnung von Dächern, Wänden, Böden durchziehen. Was ist nur im Ballsaal (Abb. 9) los? Die Schmuckleiste unter der Kassettendecke bricht plötzlich ab. Ein Lichtkeil unerklärter Herkunft hat die Stuckteile geschluckt. Die sphingische Form über der Treppe könnte ein Wandbild sein, könnte aber auch zur Architektur des Raumes gehören. In der Wandnische stehen die gestapelten Stühle auf einer von feinen Linien angedeuteten Plattform, die über dem Boden schwebt. Und keiner da. Bar, ausgeräumt. Der letzte Tanz muss lange her sein.1
Offenheit?Es gibt wenige Werke, die sich derart betreten lassen. Anders als in Form des Eintritts oder Zutritts findet die Begegnung mit Martin Kaspers in rund einem Jahrzehnt entstandenen Bildern nicht statt. Als stünde man am unsichtbaren Rand der Räume, an einer Türe oder einem Fenster im Vordergrund und blickte von dort hinein, hinein in seltsame Interieurs – und wüsste nicht, was das Seltsame in Wahrheit ist, irgendetwas, was auf den ersten Blick beruhigend stimmig erscheint und auf den zweiten beunruhigend unstimmig, gefährdet in Halt und Haltung. Stabil und stark, so muten Wände, Decken, Böden an. Nicht wie Kartenhäuser. Aber dann auch wieder wie Kulissen, leicht verschiebbar, auswechselbar und ganz und gar nicht erdbebensicher. Es ist da etwas, was einen bei aller Suggestion zugleich auf Abstand hält. Dass man wirklich drin wäre in den Räumen, sich innen wähnte oder fühlte, kommt kaum einmal vor. Und nie ist es so, dass man wie in einer virtuellen Architektur spazieren gehen, die Perspektive wechseln, die rätselhaften Details in der Nahsicht besser verstehen könnte. Der Beobachterort ist fixiert. Der Beobachterort ist draußen, gegenüber. Wie man einer Kinoleinwand gegenüber ist oder dem Bühnengeschehen vom Parkett aus zusieht. Tatsächlich tun sich Martin Kaspers Räume wie Bühnenaufbauten in kaum gebrochener Frontalität vor einem auf. Die Seiteneinblicke sind so selten2 wie die Verrückungen der zentralperspektivischen Anlage3. Immer sitzt man angesichts dieser Bilder wie auf einem festen Abonnementsplatz. Man wird nicht mal an die Seite, mal auf den Rang, mal in die Loge gebeten. Der Maler malt, wie einer mit starrer Kamera fotografiert.
Und wenn es im Werküberblick auch unzulässig wäre, von einer strengen Bildregel zu sprechen, so gilt doch, dass die Fluchtlinien meist auf der horizontalen Bildmitte auftreffen – oder nur wenig darüber oder darunter. Decke und Boden beanspruchen häufig gleich viel Fläche, man könnte auch sagen, sie verhalten sich auf eine Art spiegelbildlich zueinander. Wenn man sie austauschen würde, die Bilder gleichsam auf den Kopf stellte, würde sich, was die Raumweite und Raumdichte angeht, nicht viel ändern. Auch so behielte der unter Teil seine Eignung als Postament, als tragender, präsentierender Grund, und der obere Teil seine eigentümlich lastende Wucht.
Verschlossenheit?Das fällt an nicht wenigen dieser Räume auf, wie sie nach oben hin nicht einfach abgeschlossen, sondern regelrecht versiegelt wirken, wie die Decken mit ihren Kassetten, Vorsprüngen, Schmuckleisten, gestuften Unterbauten, überwölbenden Risaliten, umlaufenden Bändern und schweren Beleuchtungskörpern wie Grabplatten auf den Sälen liegen. Es sind keine Dächer zum Unterstehen, keine Stationen, wo man eine Weile warten würde, um in Eile weiter zu kommen. Nirgendwo geht es weiter. Und wenn Treppen oder Türen im Hintergrund verborgene Räume anzudeuten scheinen4, dann sind das keine Fluchtwege. Der Blick ist gefangen. Und nichts außerhalb, was von Belang wäre. Das ist ganz entscheidend in diesem Werk. Martin Kasper interessiert sich nicht für Raumsysteme oder reproduzierbare Raumtypen, nicht für wuchernde Architekturen, nicht für weißwandige Neutralität. Im White Cube hält sich der Maler nicht auf, und unter bauhäuslerischen Rationalisten wird er keine Freunde finden. Was er malt, sind Orte, begrenzte, bezeichnete, charakterisierte Orte.
Gemalte Orte, keine Orte, die die unbestechliche Kamera festgehalten hätte. Auch wenn den Bildern Entdeckungen und Erlebnisse vorausgegangen, wenn sie aus fotografischer Sammelarbeit entstanden sind, fehlt ihnen doch alles zum Dokument. Was beim Malen geschieht, ist ein komplexer Bewusstseinsprozess, den es gründlich zu bedenken gilt. Vorerst mag es genügen, wenn wir sagen, dass dieses Malen nicht auf Abbildung tendiert, sich nicht in der getreulichen Vedute erfüllt, dass es vor aller Ortsschilderung oder Ortsbeschreibung erst einmal an der gegenständlich konstruktiven, auf eine Art auch baumeisterlichen Tatsache des Bildes selber interessiert ist. Ein Bild wie Langer Flur (2007) zeigt exakt, was es verspricht. Einen langen Flur, wie es Flure auf Ämtern und Krankenstationen gibt. Eine Sitzbank, links und rechts Türen, Deckenleuchten in einer Reihe. Nichts, was es erst zu deuten, zu übersetzen, aus hermetischem Zeichenmaterial aufzuschließen gälte. Man darf den Bildtitel also getrost wörtlich nehmen, man verpasst nichts, wenn man vor dem Bild so handelt, wie man vor einem langen Flur handeln würde – wenn man das Auge den langen Flur entlang sehen lässt, immer den architektonisch festgelegten Blickschienen entlang, bis es ganz hinten, am Flurende angekommen ist. Dieses Sehstrecken-Ende ist als schwarzes Feld ausgebildet. Es liegt nur wenig unterhalb des Bildmittelpunkts und markiert eine mächtig saugende Sog-Stelle. Dort, an der mächtig saugenden Sogstelle, ist die Ämter- und Krankenstationen-Anmutung jäh verschwunden. Angekommen am Kreuzungspunkt von vier Lichtbahnen, die das Bild in vier gleich große Kompartimente teilt, hat man alle räumliche Illusion verloren. Das Bild kippt aus der Architektur in bildplane Geometrie, zerfällt gleichsam in seine konstruktiven Bestandteile.
Baupläne?Indes scheint das Geheimnis des Langen Flurs nicht schon verraten, wenn man seine Maße nachgemessen hat. Das Werk verführt zur Erzählung, lässt Messen und Nachmessen nicht lange zu. Irgendeine geheime Narration muss diesen menschenleeren Räumen5 doch eingeschrieben sein. Auch scheint es immer wieder um das gleiche oder ähnliche Stück zu gehen, das auf diesen leeren, entleerten Raumbühnen spielt. Ein Stück eben, das man nicht kennt und doch zu ahnen meint. Ein Einpersonenstück, ein Mehrpersonenstück, wer weiß. Und doch ist Vorsicht angeraten. Wer allzu schnell die Geschichte sucht, übersieht die malerischen Baupläne. Martin Kaspers Räume sind sorgsam geplant, entworfen, Stück um Stück gebaut, nicht aus poetischer Laune geworden. Und immer hat die präzise Struktur, das kontrollierte Zusammenspiel der Flächen, Bänder und Kuben Vorrang vor dem Storyboard. Das unterscheidet das Werk deutlich vom neosurrealen Zeitgeist. Es ist nicht die Regie des Unbewussten, die hier Architekt oder Inneneinrichter spielt. Die Bilder wollen Bilder sein, die als Bilder funktionieren und nicht zuletzt mit ihrer ausgeklügelten malerischen Organisation Interesse wecken.
Andererseits möchte man den Reim dann doch gerne kennen, den man sich auf die aufgehängten Balken und Bretter im grün gekachelten Saal mit Oberlicht machen soll. Woran soll man denken? An ein Tiergehege? An das Affenhaus im Zoo? Cube, der Bildtitel6, leistet wenig Hilfe. Cube, so scheint es, ist reine Verlegenheit. Wie es reine Verlegenheit wäre, wenn man den Langen Flur auf das Lichtkreuz reduzieren würde. Es ist schon richtig, auf der bedachten Gemachtheit dieser Bilder, auf ihrer eigensinnigen Künstlichkeit zu beharren. Und doch wird man den langen Flur abgehen müssen und wird das nicht ohne die Bange tun können, die einen stets auf langen Fluren begleitet. Die Augen sehen, und die Augen empfinden, und man kann auf dem langen Flur das Sehen und Empfinden nicht eigentlich auseinander halten. Und wer dabei an Kafkas Herrn K. denkt, wie er am Sonntagmorgen das Haus sucht, in dem sein Prozess stattfinden soll, wie er die abgelegene Juliusstraße entlang läuft „tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätte er nun schon Zeit oder als sähe ihn der Untersuchungsrichter aus irgendeinem Fenster und wisse also, dass sich K. eingefunden habe“7, der hat sich keiner unerlaubten Assoziation schuldig gemacht.
Attraktion?Es ist der nämliche Drive, der Kafkas schuldig Unschuldigen durch gespenstische Treppenhäuser in leere Verhörzimmer lenkt und einen mit Macht auf die Bühnen zieht, auf denen Martin Kasper seine magischen Raumbilder aufgebaut hat. Auch im malerischen Werk gibt es ein Verhörzimmer8. Heizkörper, Dielenbretter, alter Polstersessel, Wasserrohr an der Decke, Spiegelfenster mit Blick auf den Vernehmungstisch. Wie dicke Stoffbahnen überziehen die olivgrün braunen Farben Wände, Decke und Boden und machen die Zelle stumpf, als sollte sie schalltot sein. Was sollte uns hindern, den Langen Flur und das Verhörzimmer zusammen zu sehen? Was spräche dagegen, die Bilder zur verschwiegenen Geschichte zu verknüpfen und noch einmal Herrn K. zu folgen, wie er am nächsten Sonntag wieder auf Prozessraum-Suche ging: „… geradewegs über Treppen und Gänge; einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten ihn an ihren Türen, aber er musste niemanden mehr fragen und kam bald zu der richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht, und ohne sich weiter nach der bekannten Frau umzusehen, die bei der Tür stehenblieb, wollte er gleich ins Nebenzimmer. ‚Heute ist keine Sitzung‘, sagte die Frau. ‚Warum sollte keine Sitzung sein?‘ fragte er und wollte es nicht glauben. Aber die Frau überzeugte ihn, indem sie die Tür des Nebenzimmers öffnete. Es war wirklich leer und sah in seiner Leere noch kläglicher aus als am letzten Sonntag. Auf dem Tisch, der unverändert auf dem Podium stand, lagen einige Bücher. ‚Kann ich mir die Bücher anschauen?‘ fragte K., nicht aus besonderer Neugierde, sondern nur, um nicht vollständig nutzlos hier gewesen zu sein. ‚Nein‘, sagte die Frau und schloss wieder die Tür, ‚das ist nicht erlaubt. Die Bücher gehören dem Untersuchungsrichter.‘ ‚Ach so‘, sagte K. und nickte, ‚die Bücher sind wohl Gesetzbücher und es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, dass man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird.‘ ‚Es wird so sein‘, sagte die Frau, die ihn nicht genau verstanden hatte.“9
Freilich ist es nicht so sehr die wahnhafte Schuld-Unschuld-Verstrickung, aus der die Parallele stammt. Wohl ist es wahr, dass sich der Maler mit sichtbarer Vorliebe in Räumen nicht ganz zweifelsfreier Bestimmung aufhält. Wie Edward Hopper mit seinen einsamen Tankstellen, Bars, Bungalows eine Szenografie geschaffen hat, die sich über die Neuengland-Romantik hinaus unschwer als illustrative Grundierung einer modernen „condition humaine“ lesen lässt, gehören auch die Kulissenteile, die Martin Kasper auswählt und anpasst, zur Bühneneinrichtung einer zeitgenössischen Dramaturgie. Nur ist sein Stück kein moralisches Stück und keines, das von der Dynamik untergründiger Energien und Obsessionen handelte. Aus den Foyers, Wartehallen, Observationsräumen, U-Bahn-Stationen, Flughafen-Entrees und aufgelassenen Festsälen im Stile altsozialistischer Repräsentation wird kein politisches Programm. 10
Zwar ist mit der Einladung in solche Bildräume nicht gerade Aufgehobenheit versprochen, gar angenehmes Unterkommen, Behüttung oder Behütung. Kalt erscheinen die Interieurs. Immer herrscht dieses kranke Licht, die labortechnische Ordnung, die Asepsis der Pathologie. Zum Wohlfühlen ist das wahrlich nicht. Aber als Metapher für die Unbehaustheit des Menschen wären die Ingredienzien der befremdlichen, der abstoßenden Anmutung gänzlich missverstanden. Abstoßung findet ja auch nicht statt. Was Martin Kaspers Bildorte mit dem Ambiente verbindet, in das Kafkas K. gerät, ist nichts weniger als eben dieses Hineingeraten, die kolossale, ganz und gar erstaunliche Anziehungskraft, die von ihnen ausgeht. Das Gericht werde von der Schuld angezogen, erklärt sich der Protagonist im Roman die eigentümliche Selbstbeobachtung, dass er auch ohne Wegleitung an den Verhandlungsort findet, dass es ihn gleichsam hintreibt, wo sein Prozess stattfinden soll. Nicht anders ergeht es einem vor Martin Kaspers Bildern, wo man zur Erklärung der unwiderstehlichen Attraktion keinen moralischen Wirkmechanismus braucht, wo alle Erfahrung in der sinnlichen Gewissheit zusammen schießt, dass es nur die Leere sein kann, die Entleertheit der Räume, die einen aufsaugt, die einen schluckt wie ein schwarzes Loch.
Leere?Bilder an der Wand, wir sind im Museum, kein Zweifel. Die runde Besucherbank, wie man sie vom Kunsthistorischen Museum in Wien her kennt, hat dem Bild seinen Namen gegeben: Space shuttle, 2009 (Abb. 7 u. 5). Aber niemand, der auf die Bilder achten würde. Niemand, der auf der Rundbank Platz genommen hätte. Und an den Wänden auch kein Tizian und kein Parmigianino, nur Bilder von leeren Museumsräumen mit und ohne Rundbänken. Als spiegelte sich das Bild im Bild, der Raum im Raum, die Leere in der Leere. Ist es dieser Zirkelschluss, das undurchdringliche Verweisnetz, das niemanden da sein lässt, den Aufenthalt hier unmöglich macht?
Auf anderen Bildern11 erinnert das Dekor an Weltenschöpfungen à la Hollywood. Aus welchen Filmen stammt, was da im fahlen Großlicht wie Hauptquartier, Kommandobrücke, Kontrollstation, Steuereinheit oder Rechenlabor anmutet? Die Stimmung schwankt zwischen Raumschiff Enterprise und Weltvernichtungssalon à la Dr. No. Aber wer da was lenkt und leitet und Rettung oder Untergang beschließt, das wird nicht verraten. Keiner, der Verantwortung übernehmen wollte, kein einsamer Held bei seiner „Mission impossible“.
Oder diese Festsäle – Doppelhelix, 2009 (Abb. 6), Lviv II, 2009 (Abb. 2) – mit ihren euterschweren Lüstern, die einmal erstrahlten, als unter ihnen verdiente Werktätige zu Helden der Arbeit geadelt wurden. Längst ist das Licht aus, die Sicherung herausgeschraubt. Der Boden glänzt, als hätten sich keine Putzkolonnen, sondern Restauratoren über ihn hergemacht. Gelassen wartet der Stuhl an der Wand darauf, dass er noch einmal für Ordens- und Ehrensachen gebraucht würde. Aber nie beginnt die Weltgeschichte von Neuem, nie wiederholt sich etwas. Leere Räume sind wie Fermaten im Fluss der Zeit. Etwas ist stehengeblieben, angehalten worden, nutzlos geworden. Für nichts und niemanden gut. Menschen wären Garanten für Leben, für Zeit, für Geschichte. Wo Restauratoren den Boden versiegelt haben, rechnet keiner mehr mit Leben, Zeit, Geschichte. Der Anhalt und die Leere berühren sich auf Martin Kaspers Bildern wie zwei, die sich vorsichtig an den Händen halten.
Anhalt?Anhalt und Leere wie im Wartesaal. Ein Raum, wo man wartet, dass es Zeit wird. Wo alle warten, sind alle Opfer der vielen, der zäh vergehenden Zeit. Wo alle warten, sind auch alle Opfer der vielen, der zäh hängenden Blicke. Warteopfer sind Blickopfer. Jeder schaut dem anderen beim Warten zu, jeder schaut zu, wie ihm beim Warten zugeschaut wird. Das ist ein wenig peinlich. Und peinlich ist, wie die Opfergemeinschaft erträgt, dass die Intimität des Wartens öffentlich geschieht. Was aber, wenn die Opfergemeinschaft fehlt, wenn auf Martin Kaspers Bild der „Wartesaal“ leer bleibt? Dann ist die Leerstelle wie ein Magnet, in dessen Kraftfeld man gleichsam körperhaft spürt, wie es wäre, wenn man da säße und eben nicht allein da sässe. Ein Wartesaal-Bild mit Wartenden würde davon handeln, was ungemütlich ist an Raum und Zeit. Das Wartesaal-Bild ohne Wartende handelt von Anhalt und Leere, von der Faszination an leerem Raum und leerer Zeit.
Martin Kaspers Räume kennzeichnet eine eigentümliche Mischung aus Vertrautheit und Künstlichkeit. Man könnte jedes Detail exakt beschreiben, aber man weiss nie exakt, wo man sich befindet und was hier geschehen ist oder geschehen könnte. Schicht um Schicht haben sich im malerischen Prozess Einfälle, Erfindungen, Verwerfungen und Revisionen über den realen Prospekt gelegt. Es ist ein Malen, das sich selber als etwas erfährt, das aus der Erinnerung aufsteigt. Das bestimmende Klima der Räume ist immer das der Erinnerung. Und im Klima der Erinnerung überblenden sich die abgebildeten und die erlebten, die fotografierten und die besuchten Räume. Als erinnerte Räume sind die Räume konstruierte Räume, keine rekonstruierten Räume. Es sind utopische Räume, Räume voller Überschuss an Behauptung. Räume, wie sie ein Filmausstatter entwerfen könnte, der zugleich sein eigener Stückeschreiber, Regisseur und Hauptdarsteller ist. In einem eindrücklichen Bilanzbild hat Martin Kasper das eigene Atelier (2008, Abb. 3) zum Erinnerungsort gemacht. Das dreiteilige Panorama lässt den Atelierbesucher nahe heran kommen, näher als sonst. Man wird vom Maler gleichsam an die Wände geführt, wo er Bilder – von sich aufgehängt hat. Röntgenbilder. Schmerzbilder. Bilder im Bild, die in behutsamer, keuscher Referenz die Erfahrung einer schweren Krankheit aufbewahren.
Handlungsarmut?Vielleicht stimmt der Befund von den menschenleeren Räumen ja doch nicht so ganz. Es gibt schon auch auf Figuren auf den Bildern von Martin Kasper12. Früher gelegentlich, in den letzten Jahren immer seltener. Meist gehören sie zur skulpturalen Staffage. Dass sie die Szenen bevölkern, die Räume beleben würden, wäre unzutreffende Charakterisierung. Eine Frau in der U-Bahn-Station. Sie scheint den Luftzug kaum zu verspüren, der ihr die Mantelschösse auseinander bläst. Sie steht wie Säule oder Pfeiler, und wenn ein Zug vor ihr hielte, sie stiege doch nicht ein. Und der Kellnerkopf hinter dem Tresen im Restaurant „Alex“ bildet mit Tellerstapel, Gläserset und Lichtspot ein veritables Stillleben. Dass von ihm viel Handlung ausginge, ließe sich schwerlich behaupten. So wenig wie die Gäste im riesenhaften Bowling-Center in irgendeine Spielhandlung vertieft scheinen. Niemand handelt, niemand tut etwas, nichts geschieht auf diesen Bildern. Und dies in merkwürdigem Kontrast zu den opulenten Zurüstungen für Handlung und Geschehen.
Man kann Statik und Statuarik dieser Bilder, die gefrorenen Situationen, die Handlungsarmut auf entleerten Bühnen, diese blockartige Wucht der Dinge und Architekturen auch als malerische Strategie gegen die zeitgenössischen Beschleunigungen verstehen, gegen die Verflüchtigungen, die Instabilität, den hektischen Stoff- und Ideenwechsel, der aus der innovationsgetriebenen Kultur resultiert. Diese Malerei muss nicht neu sein, wenn sie souverän sein kann. Und was sich da so irritierend unbeschwert an der Tradition misst, sollte nicht missverstanden werden als Rückzug oder Verteidigung. Näher kommt man dieser Malerei, wenn man ihre Verzögerungen, Reduktionen, Schematisierungen zeichenhaft nimmt, als ebenso überlegte wie überlegene Option gegen das virtuelle Phantasma der Erschlossenheit und Verfügbarkeit, als Plädoyer mithin für die Konstruktions- und Erschließungsbedürftigkeit von Welt.
Erinnerungshandlung?Welt, das sind die Bilder, die wir uns von der Welt machen. Soll man bei Martin Kaspers Bildern sagen „gedämpfte Welt“? Ein wenig stumpf sieht diese Welt ja aus, trocken, leicht verschattet, entrückt, entfernt, durch ein opakes Okular gesehen. Und die Dinge erscheinen wie abwesend, nicht ganz hier zu sein, von weit hergeholt, aus dem Gedächtnis belichtet, festgehalten auf einem Film, der alle Töne nach Moll hin moduliert. Das schafft eine eigentümliche Stimmung. Aber die „gedämpfte Welt“ ist kein romantisches Paradigma, kein Sehnsuchtsmotiv, indiziert nicht Traum oder Halbwachheit. Malen als Erinnerungshandlung, als Weise des bildhaften Versinnlichens und Vergegenständlichens ist ein überaus bewusster Vorgang.
Malerei, bewusste Malerei, kann nicht mehr so tun, als ginge es noch immer darum, die Dinge einfach umzusetzen, sie von ihrem Dingsein in den Zustand des Gemaltseins zu heben. Sie weiß vielmehr, dass zwischen dem Dingsein und dem Gemaltsein immer schon das Bildsein ist, dass die Dinge nicht anders und nicht eigentlicher erfahrbar sind denn als Bilder. Bilder aber existieren nicht in der stofflich begrenzten Form des Gegenstands mit festen Dimensionen und festen Bestimmungen. Bilder verweisen aufeinander. Sie sind immer zugleich Bilder von Bildern, existieren nur in der dynamischen Form der Bezüglichkeit. Das meinen diese auffällig weit geöffneten Räume. Sie verwachsen in der Summe zum eindrücklichen Zeichen der Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit, um die es diesem Werk zu tun ist. Offenheit ist wie Leere. Offenheit und Leere sind starke Anstiftungen zum Sehen, zur aktiven Weiterarbeit, Sehweiterarbeit, Gedankenweiterarbeit am Bild. Museumsruhe im Museum. Lampengehänge erloschen. Vertagung im Konferenzsaal. Handelsschluss an der Börse. Alle Bänke vor dem Gate im Airport unbesetzt. Nichts los im Café. Doch, jetzt geht es erst richtig los. Der Sog, der von den Bildern ausgeht, der Sog in die weit offenen Räume hinein ist nicht weniger als Induktion eines Sehens, das sich mit der Empfindung so wenig zufrieden gibt wie mit der Erkenntnis.
Sehgeschichte Die Stills sind ja nicht einfach angehaltene Filme. Sie sind inszeniert, mit künstlichen, künstlerischen Mitteln in den Ruhemodus gebracht. Willentlich vereinfacht, geometrisiert, entrümpelt, von allem Illustrativen befreit, leergeräumt, um sie in Wahrheit auffüllen zu lassen und sie an ihre unabsehbare Sehgeschichte zu übergeben. Gerade im Abbau der Formen- und Dingfülle erlebt diese Malerei, wie die Formen und Dinge uneindeutig werden, magisch. Dann thront der Bildschirm wie eine konstruktivistische Skulptur auf dem Sockel, und die Rundbank im Museum lässt an einen Raumtransporter aus dem Science-fiction-Film denken, die futuristische Bar verwandelt sich in eine medizinische Apparatur und die U-Bahn-Station in ein Bühnenbild für ein erst noch zu schreibendes Stück mit vorerst unbekannten Haupt- und Nebenrollen.
Der leere Raum ist wie die Negativform um die fehlende Figur. Er ist das, was bleibt, wenn der Figurenkern aus seiner Gussform ausgeschmolzen wird. Es ist ja nicht so, dass die Bilder sagen wollten, die Räume kämen auch ohne den sie bewohnenden Menschen gut aus, bräuchten ihn gar nicht, um stabil und stark anzumuten, ungefährdet in Halt und Haltung. Martin Kaspers menschenleere Räume deuten alle auf ihr Gegenteil, auf ihre Menschenherkunft nämlich. Sie künden – zuweilen mit theatralischem Gestus – von dekorativen Bedürfnissen und Phantasien, von baumeisterlichen Grandiositäten. Auch als nüchternen Multifunktionsgehäusen eignet ihnen ein Hang zur Großartigkeit, zum gestalterischen Surplus, ein fremder, nicht ganz zeitgemäßer Schwung.
Anwesenheit?Wenn die Figur fehlt, wenn sie nicht auftritt, wenn sie sich nicht zeigt, heißt das also nicht, dass sie ausgeschlossen wäre, und heißt keineswegs, dass sich der Maler für das nichtfigürliche Fach entschieden hätte. Es sind allemal hilflose Oppositionen gewesen, die die kunstgeschichtliche Erzählung erfunden hat: figürlich – nonfigurativ, figürlich – abstrakt, gegenständlich – ungegenständlich. Denn immer und notwendig ist der Blick figürlich, von seinem körperlichen Substrat, von seiner Figürlichkeit nicht zu lösen. Es gibt kein ungegenständliches Sehen. Sehen ist angewiesen auf einen Körper. Der Blick kann zwar von den Dingen absehen. Er kann die Dinge in Formen, Zeichen und Ideen verwandeln. Aber auch so bleibt er figürlicher Blick. Und wenn wir sagen, der leere Raum sei wie die Negativform um die fehlende Figur, er sei das, was bleibe, wenn der Figurenkern aus seiner Gussform ausgeschmolzen werde, dann ist es immer zuerst der Maler selber, der in der Leerstelle, die er geschaffen hat, agiert und seine kenntlich unkenntlichen Spuren hinterlässt. Und es sind wir, die Betrachter am Bühnenrand, an der weit offenen Vorderseite der weit offenen Räume, die sehend agieren und sehend unsere kenntlich unkenntlichen Spuren am Bild hinterlassen.
Es sind Räume voller suggestiver Erlebnisqualität, die leeren Räume, die Martin Kasper malt. Und ihr innerstes Geheimnis ist, dass etwas psychisch anwesend scheint, was sich physisch nicht zeigt, nicht zu zeigen braucht. Die Figuren müssen nicht sichtbar sein, um sie sehen zu können. Das Stück muss nicht auswendig gelernt werden, um die Rollen aufsagen zu können. Denn das Traumartige, Albtraumartige, das faszinierend Befremdliche, das man zu spüren meint, dieser Schauder, wenn Dach und Wände von menschengemäßer Wohnbarkeit zeugen, und doch kein Mensch da ist, der in den Wohnungen wohnen wollte, das alles ist doch nur unsere eigene Sehzutat, unser eigenes Verdrängtes, das die leere Bühne braucht, die Zeichenlosigkeit und die ungeklärten Zeichen, um sich jählings zu erfahren. Der leere, aus- und aufgeräumte physische Raum ist wie eine sinnliche Brücke in den dunklen, verstopften, unaufgeräumten psychischen Raum. Ob es den Langen Flur entlang geht ins Verhörzimmer oder von der space-shuttle-förmigen Rundbank im leeren, sich selber ausstellenden Museum geradewegs ins Atelier: Es sind allesamt Innenräume. Und wenn die Innenräumen auch nicht von der Art sind, dass man wirklich drin wäre, sich innen wähnte oder fühlte, wie in einer virtuellen Architektur spazieren gehen, die Perspektive wechseln, die rätselhaften Details in der Nahsicht besser verstehen könnte, wenn man also keinen Schritt vorankommt und wie angewurzelt stehen bleibt, sehend stehen bleibt, dann ist man doch mitten in ihnen – als ihr eigentlicher Bewohner.
1 Bei dem Tanzsaal handelt es sich um „Klärchens Ballhaus in Berlins Mitte“, wie Martin Künzig schreibt: „Korrektur des Raumvergessens“ in Martin Kasper „ausgeräumt“, Solothurn 2007, o.P.2 etwa Observation, 2006 oder Kuznetsky Most, 2008 (Abb. 11)3 etwa Flur, 2008 (Abb. 12)4 z.B. demnächst, 2007 (Abb. 8), Polska II, 2007 oder Zwischen den Türen, 20075 „Ausgeräumt“ hiess Martin Kaspers Ausstellung im Haus der Kunst St. Josef in Solothurn (15. September bis 14. Oktober 2007)6 20067 Franz Kafka „Der Prozess“, 2. Kapitel8 20079 wie Anm. 7, 3. Kapitel10 Dazu ist kein Widerspruch, wenn Bernd Künzig schreibt: „Für Martin Kasper sind es anschauliche Räume , die sich in zentralperspektivischer Perfektion darstellen lassen, und gleichzeitig solche der Anschauung, die das Sehen selbst thematisieren: die Raumdarstellung ist Ausdruck dieser Inszenierung des Sehens. Daraus erklärt sich nicht zuletzt die Faszination des Künstlers für Kinos, Theater, Überwachungszentralen, Wartehallen, und oyers; sie alle dienen diesem Theater der öffentlichen Wahrnehmung.“ In Martin Künzig wie Anm. 111 Konferenz, 2005 oder ohne Titel, 200512 Zum Milosevic-Prozess in Den Haag ist im Jahr 2004 eine ganze Serie von Tribunal-Bildern entstanden.