Herbert M. Hurka: "Nicht bewohnbar, Martin Kaspers Raummodelle", in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 168, 46. Jahrgang, 2015
Herbert M. Hurka
Nicht bewohnbar Martin Kaspers Raummodelle
Es geht immer noch weiter – und doch auch nicht. Stets ist am anderen Raumende eine offene Tür, ein Durchgang, manchmal eine lichte Glasfläche. In jedem Fall setzt sich der aktuell sichtbare Raum fort. Das zumindest ist eins der zentralen Konstruktionsprinzipien, nach denen Martin Kasper seine Innenräume malt. Das Motiv weist eine bemerkenswerte Parallele zu Kafkas Bauplänen auf. Deuleuze/ Guattari heben hervor, dass in Kafkas Architekturen alle Räume mit einer Hintertür versehen sind. (1) Als gäbe es einen Ausweg. Wie dort sind auch auf Kaspers Gemälden die Ausgänge keine Durchlässe, die in die Freiheit zu führen versprächen. Wenn es weiter geht, dann wie gehabt. Was sich jenseits des konkretisierten Raums ausbreiten mag, ist nicht dazu angetan, Neugier zu wecken. Varianten, Erweiterungen in numero – mehr lässt sich nicht erwarten, denn die Räumlichkeit, die als Hauptsegment dieses architektonischen Kontinuums in Szene gesetzt wird, ist so detailliert und erschöpfend ausgeführt, dass qualitativ Neues ausgeschlossen erscheint. Nach dem Gesetz selbstähnlicher Reproduktion überraschte es nicht, wenn eins dem anderen folgte in einer unendlichen Verschachtelung aus Fluren, Aufenthaltsplätzen, Treppenhäusern, Wartebuchten, Türen, Sälen und spiegelnden Glasfronten. Boden und Decke fungieren als konstituierende Raummarker, deren Begrenzungen auf einen Fluchtpunkt zulaufen. Dieses System aus Flächen und Fluchtlinien klickt sich in die zentralperspektivisch gebahnten Sehkonventionen ein. Es ist unvermeidlich, dass synästhetische Reflexe den Bewegungsapparat affizieren und die Distanz zwischen Bild und Betrachtendem aufs äußerste minimieren. Die kalkuliert gesetzten 3D-Schemata ziehen den Blick in den Bildraum. Doch der Schein trügt, denn Kaspers Raumdarstellungen basieren allein auf signifikanten Merkmalen empirischer Architektur unter der Grundbedingung, dass Statik und Perspektive stimmen. Dementsprechend handelt es um keine Abbildungen realer Räume, sondern die Umsetzung eines subjektiven Raumkonzepts – aus Linienwerken, Flächen, Lichteffekten komponierte Architekturphantasien. Den optischen Schlüsselreiz liefert die Zentralperspektive. Sie ist das Ordnungsprinzip, über das Kasper seinen Bildaufbau organisiert. Ohne die Absicht, kunst- und kulturgeschichtliche Referenzen zu adressieren, ist sie eine zwar fundamentale, in ihrer ästhetischen Wertigkeit aber nicht mehr als eine formale Vorentscheidung – etwa in der Art, wie ein Roman aus der Ich-Perspektive erzählt ist – um spezifische Wirkungen zu erzielen. Suggestivkraft, Orientierung, Stille, aber auch Irritation. Um Räume zu visualisieren, ist die Anwendung der Zentralperspektive heute zu einer sekundären Methode ohne exklusiven Authentizitätsanspruch geworden. Während es den Renaissancekünstlern bei der Wiederentdeckung der in der griechischen Antike vorformulierten Zentralperspektive um eine wirklichkeitsnahe, authentische Raumdarstellung zu tun war, um die wissenschaftliche Perfektionierung eines realistischen Prinzips, initiiert ein zeitgenössischer Künstler ein Reloading-Programm, das in einer weit ausholenden historischen Spirale sich in eine längst dekonstruierte Sehwelt einklinkt. Mit der Schulung des perspektivischen Sehens etablierte sich eine neue Kulturtechnik, die zu dekonstruieren erst dem Film zufiel. Dass und wie dieser mediengeschichtliche Umbruch von der Malerei ratifiziert wurde, lässt sich an Surrealismus und Kubismus ablesen. Seither ist bewusst, dass die rezeptive Monokausalität, die der Zentralperspektive zugeschrieben war, kein wahrnehmungspsychologisches Naturgesetz ist. Als Medium, das jeden Perspektivwechsel realisieren kann, wird die Filmkamera mittlerweile von den unabsehbaren Möglichkeiten digitaler Raumsimulakren ergänzt, überholt, abgelöst. Animationsräume wie jenes Pandora, das der „Avatar“-Regisseur James Cameron sich von prominenten Programmierern designen ließ, bringen die Raumerfahrungen jener User-Massen auf den Punkt, denen die game-worlds zweite Heimat sind. Das Spektrum des visuellen Raumes erstreckt sich vom einfachen Sehen, d.h, mit bloßem, analog-registrierendem, nicht-upgegradetem Auge über die die Sinne überfordernde technische Akzeleration bis hin zu den phantastischsten Digitalsimulakren – Ende offen. Der Künstler selbst beschreibt seine Arbeiten als „Portraits von Räumen“. Und nicht anders als ein Portraitmaler geht er vor, wenn er von einem Foto ausgehend während des Malaktes den Charakter einer Architektur freizulegen sucht. An einer Stelle wird etwas hinzufügt, an einer anderen gekappt, Fluchtlinien, Winkel und Proportionen manipuliert. Der Malprozess wird zum Erkunden, Ergründen, Ausforschen eines zunächst verborgenen, dann immer freigiebiger sich offenbarenden Objekts. Mag dies alles a priori mitschwingen in dem ursprünglich ausgewählten Raum, danach auch auf der Fotografie, so objektiviert es sich doch erst unter dem analytischen Zugriff und dem in die Malhand sich übertragenden Blick. Will man Kaspers Raummodelle auf einen prägnanten Ausdruck verkürzen, so läge Marc Augés Begriff des Nicht-Ortes sicher am nächsten. Vorerst zumindest. Die folgende Aufzählung der „fotografischen Stilleben“ und „Darstellungen einer verlassenen Welt“, als die Emanuel Brassat in seinem klugen Katalog-Text Kaspers Bilder apostrophiert, sollte einen hinlänglichen Überblick über die Beschaffenheit jener Orte geben: „ . . . die leeren Zookäfige, die sich selber überlassenen Pavillons der Biennale von Venedig, Gebäudehallen, Wartesäle, Flure, Metrotreppen und –bahnsteige, ein Kontrollraum, Gebäudeinterieurs, eine Bildergalerie, ein Krankenhausflur, ein Wasserbecken oder eine im Bau befindliche Ausstellungshalle.“ (2) Menschen, das ist leicht einzusehen, lenken nur ab. Zu Augés Nicht-Orten, Non-Lieus, „ . . . gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert.“ (3) Diese Paradigmen der Unbehaustheit könnten durchaus das Substrat von Kaspers Architekturerfahrung bilden. Prinzipiell jedoch gilt auch dafür Augés Einschränkung, dass Nicht-Orte „ . . . niemals in reiner Gestalt“ existieren.“ (4) Genau den Aspekt betont Kasper besonders, wenn er Räume portraitiert, in denen Geschichte sedimentiert ist, oder die künstlich implementierte Male von Wohnlichkeit aufweisen wie gepolsterte Sitzgruppen oder naturhaft anmutende Holzelemente. Gleichzeitig steigert er die aus der alltäglichen Umwelt abgezogenen Motive ins Monumentale. Assoziationen an Geborgenheit, Wohnlichkeit, Nestwärme, Behaglichkeit, an alles also, was irgend an Privatheit erinnern könnte, wird eliminiert. „In einem Palast gibt es keinen Winkel für die Intimität“. Dieses Baudelaire-Zitat dürft den Sachverhalt genau treffen. (5) Die anthropologische Affinität des Menschen zum Haus ist unbestreitbar. Ähnlich, nur komplexer als Werkzeuge, sind gebaute Häuser dingliche Fortsetzungen des biologisch insuffizienten Körpers. Diese Affinität transgrediert ins Innere des Subjekts. Mit der Internalisierung des Hauses als psychischer Matrize wird laut Freud das Haus zum Symbol für das Subjekt schlechthin. Gemäß dieser Einsicht träumt, ordnet und objektiviert das Subjekt seine innere Organisation über die Metapher des Hauses. Vom Keller als Unbewusstes bis in die Beletage als Bewusstsein vermittelt die Architektur der Mehrstöckigkeit das eingängigste Bild. Außenwelt als Innenwelt als Außenwelt als Innenwelt. In diesen Besetzungen ist auch der Grund zu sehen, dass leere Gebäude als negative Räume deliriert werden, Vakua, die sich sogleich als Projektionsflächen für die Ableitung eines nie unter Kontrolle zu bringenden psychischen Überschusses in Beschlag nehmen lassen. Auf dieser Ebene unterscheidet sich das dunkle Spukschloss in keiner Weise von den grell ausgeleuchteten Hotelfluchten in Kubricks Horrorklassiker „Shining“. In solchen Räumen sind die Abdrücke vergangenen Lebens so aufdringlich präsent, dass sie die endogenen Bildwelten aktivieren. Nietzsches bekannter Aphorismus vom Abgrund, der in uns zurückblickt, bringt dieses Widerspiel auf den Punkt. Dies sind Voraussetzungen, unter denen es auffällt, dass Kaspers Bilder keine derartigen Reflexe auslösen. Sie lassen sich nicht als Projektionsflächen missbrauchen. Es sind, wie der Künstler es sich selbst zum Programm gemacht hat, Raumportraits. Nicht mehr aber auch nicht weniger, denn was sich dem Blick präsentiert, verursacht kein Mangelgefühl, das danach verlangte, durch abstruse Phantasien kompensiert zu werden. Fasziniert davon, wie diese Räume „funktionieren“, bleibt der Blick darauf konzentriert, wie sie konstruiert sind, wie ihre Architektur gemeint ist – ebenso darauf, wie die Lineaturen, Flächen, Winkel und Hell-Dunkel-Werte zueinander in Beziehung stehen, und ob die Komposition der komplexen Linienwerke nicht in eine autonome – konstruktivistische – Graphik des Nichtfigurativen umswitcht. Diese Potentiale halten den Blick auf der Oberfläche fest und verhindern triviale Projektionen des Unheimlichen, jenes buchstäblich Un-Heimlichen, Nicht-Heimlichen, als das Freud die Etymologie des Adjektivs „unheimlich“ klärt. Gerade das offen zutage Liegende ist das Bestverdrängte, das das das Subjekt so beunruhigt. Marc Augé versteht seine Studie über die Nicht-Orte als „Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“. Sollte an Kaspers Raumkonzeption doch etwas unheimlich anmuten, so wäre es der Verweis auf den Menschen als einer Leerstelle, die zum Signum urbaner Unbewohnbarkeit und Isolation wird.
Literatur: 1) Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, aus dem Französischen übersetzt von Burkhart Krober, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1976, S. 101 2) Emmanuel Brassat: Multiple Räume, übersetzt aus dem Französischen von Matin und Volker Kasper, in: Martin Kasper: raumerinnern, Ausstellungskatalog, Verlag Stadt Villingen-Schwennigen, 2007, S. 8f 3) Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, aus dem Französischen von Michael Bischof, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1994, S. 44 4) Ebd. S. 925. 5) Charles Baudelaire, zit. in: Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, übersetzt von Kurt Leonhard, Ullstein Verlag, Frankfurt/M – Berlin – Wien, 1975, S. 62