Martin Kasper, ›Inside‹, Texte: Hans-Joachim Müller, Dietrich Roeschmann, hrsg: Christoph Merian Verlag, Basel, 2005
Im Ruhemodus
Zu den Bildern von Martin Kasper
Grünes Gewölbe. Schmucklos. Aus feudaler Zeit stammt es nicht. Zum Green Cube fehlt ihm die Winkeltreue. Also Zwischenzeit. Zwischen alter und neuer Zeit. Ein Raum mithin ohne Zeit und voller Zeit. Ein Raum, in dem man wartet, dass es Zeit wird.
Waren wir nicht schon dort? Kommt uns doch irgendwie bekannt vor. Immer führen uns die Bilder von Martin Kasper an Orte, an denen wir schon gewesen sein könnten, wo uns alles bekannt vorkommt und zugleich alles fehlt für die Vertrautheit. Der Wartesaal – im Badischen Bahnhof in Basel – ist leer. Niemand da. Keiner, der wartet, dass es Zeit wird. Hat der Taktfahrplan das Warten überflüssig gemacht? Kein Zug mehr, auf den sich zu warten lohnte?
Wo alle warten, sind alle Opfer der vielen, der zäh vergehenden Zeit. Wo alle warten, sind alle Opfer der vielen, der zäh hängenden Blicke. Warteopfer sind Blickopfer. Jeder schaut dem anderen beim Warten zu, jeder schaut zu, wie ihm beim Warten zugeschaut wird. Das ist ein wenig peinlich. Peinlich ist auch, dass diese Opfergemeinschaft zwangsläufig erträgt, dass die Intimität des Wartens öffentlich geschieht. Was aber, wenn eine Opfergemeinschaft gänzlich fehlt, wenn auf Martin Kaspers Bild der Wartesaal leer bleibt? Dann ist diese Leerstelle wie ein Sog, in den man hineingerät und körperhaft spürt, wie es wäre, wenn man da sässe – und eben nicht allein da sässe. Ein Wartesaal-Bild mit Wartenden würde davon handeln, was ungemütlich ist an Raum und Zeit. Das Wartesaal-Bild ohne Wartende handelt von uns, von Widerstand und Widerstandslosigkeit, von der Faszination an leerem Raum und leerer Zeit.
Börse, Bowlingbahn, Konferenzhalle, Schaltzentrale, U-Bahn-Station, Gerichtssaal, Bar, Kino, Restaurant, Autogrill. Nie ist mit der Einladung in diese Bildräume Aufgehobenheit versprochen, angenehmes Unterkommen, nie Behüttung oder Behütung. Seltsam kalt erscheinen die Interieurs. Immer herrscht dieses kranke Licht, die labortechnische Ordnung, die Asepsis der Pathologie. Zum Wohlfühlen ist das nicht. Dazu erscheinen die Räume zu offen, zu weit aufgeschnitten. Irgendwo geht es stets weiter: nach links, nach rechts, nach hinten, nach oben, um die Ecke. Und selbst der hermetisch wirkende Saal der Broker und Börsianer ist nur Relaisstation unaufhaltsamer Kapitalflüsse. Es sind Bühnen für festgelegte Auftritte, eingerichtet für Kommen und Gehen, nicht für Ankommen oder Bleiben. Durchgangsräume – wie der Wartesaal.
Und doch ist niemand da, der käme oder ginge. Niemand, der auf seinen Auftritt wartete. Die wenigen Figuren gehören zur skulpturalen Staffage, sie bevölkern, beleben die Räume nicht. Die Frau in der U-Bahn-Station scheint den Luftzug kaum zu verspüren, der ihr die Mantelschösse auseinander bläst. Sie steht wie Säule oder Pfeiler, und wenn jetzt ein Zug vor ihr hielte, sie stiege nicht ein. Der Kellnerkopf hinter dem Tresen im Restaurant Alex bildet mit Tellerstapel, Gläserset und Lichtspot ein veritables Stillleben. Dass von ihm viel Handlung ausginge, wäre schwerlich zu behaupten. So wenig wie die Gäste im riesenhaften Bowlingcenter in irgendeine Spielhandlung vertieft scheinen. Niemand handelt, nichts geschieht auf diesen Bildern – ein seltsamer Kontrast zu den opulenten Zurüstungen für mögliche Handlung und Geschehen.
Leuchtkörper in Ufo-Dimension. Sessel wie Torsi. Stabstellen, als würde hier das Schicksal der Welt entschieden. Auf den ersten Blick scheint die überzeichnete Möblierung einer surrealen Tradition zu folgen. Und man meint, solche Kulissen gut zu kennen. Aber wenn man die Stücke benennen will, die hier spielen müssten, dann fehlen die unzweifelhaften Titel. Erinnert das Ambiente nicht an Hollywoods Wille und Vorstellung? Aus welchen Filmen stammt, was da im fahlen Licht wie Hauptquartier, Kommandobrücke, Kontrollstation, Steuereinheit oder Rechenlabor anmutet? Die Stimmung schwankt zwischen Raumschiff Enterprise und Weltvernichtungssalon à la Dr. No. Aber wer da was lenkt und leitet und Rettung oder Untergang beschliesst, das wird nicht verraten. Dass es um wichtige Dinge geht, um bedeutende Ereignisse, das scheint gewiss. Nur dass sich keiner zeigt, der Verantwortung übernehmen wollte, kein einsamer Held, keiner aus dem unsterblichen Titanengeschlecht.
Trocken, fast beiläufig wird das geheimnisvolle Nebeneinander der schieren Ereignislosigkeit und des pathetischen Ereignisvorscheins inszeniert. Wie ein dünner, fast transparenter Schleier liegt die Farbe auf der Leinwand, und nie gerinnt sie zu einer deckenden Haut. Nimmt man die Durchsichtigkeit als Zeichen eines reflexiven Vorbehalts beim Bildermachen, dann hat man zugleich ein Motiv für das ganze Werk. Malerei scheint nur noch möglich, wo sie sich ihrer Schritte und Teile bewusst bleibt, wo sich das Bild bei seiner Bildwerdung selbst begleitet. So – im Denkverhältnis zu sich selbst – darf sich Malerei auch noch einmal auf ihren alten sinnlichen Zauber verlassen und entdeckt ihre enormen Möglichkeiten, indem sie gerade nicht – wie noch die Avantgarden des 20. Jahrhunderts es taten – sämtliche neuen Bildtechniken simuliert.
Man kann Statik und Statuarik dieser Bilder, die gefrorenen Situationen, die Handlungsarmut auf entleerten Bühnen, diese blockartige Wucht der Dinge und Architekturen auch als malerische Strategie gegen die zeitgenössischen Beschleunigungen verstehen, gegen die Verflüchtigungen, die Instabilität, den hektischen Stoff- und Ideenwechsel, der aus einer innovationsgetriebenen Kultur resultiert. Malerei muss nicht neu sein, wenn sie souverän sein kann. Und was sich da so irritierend unbeschwert an der Tradition misst, sollte nicht missverstanden werden als Rückzug oder Verteidigung. Näher kommt man dieser Malerei, wenn man ihre Verzögerungen, Reduktionen, Schematisierungen zeichenhaft begreift, als ebenso überlegte wie überlegene Option gegen das virtuelle Phantasma dieser Jahre.
Ruhe auf der Bowlingbahn. Vertagung im Konferenzsaal. Handelsschluss an der Börse. Nichts los im Café. Martin Kaspers Stills sind nicht einfach angehaltene Filme. Sie sind inszeniert, mit künstlichen, künstlerischen Mitteln in den Ruhemodus gebracht. Willentlich vereinfacht, geometrisiert, entrümpelt. Nirgendwo Dekor. Alles fehlt, was überflüssig, was nur Beiwerk wäre. Kein vergessener Zettel im Hippodrom, in der U-Bahn-Station nichts auf dem Boden, blanke Tische im Restaurant, Theke ohne Kuchen, Bar ohne Flaschen. Als ob der Maler seine Räume erst einmal ausgeräumt, Leben und Lebensutensilien weggeschafft, an Tischen und Regalen die Beschläge demontiert und keine losen, formlos herumstehenden Gegenstände zugelassen hätte.
Soll man dazu Abstraktion sagen? Oder ist es gerade umgekehrt, findet hier eine zögerliche Wiedergewinnung von Gegenständlichkeit, behutsame Gegenstandssuche im Fundus der gegenstandsvergessenen Moderne statt? Sie weiss – und gerade darin erweist sich die Intelligenz dieser Malerei –, dass alle Schlachten schon geschlagen sind, dass es nichts mehr durchzukämpfen gibt, dass man sich nicht mehr auf die Seite des einen oder des anderen zu stellen braucht, weil alles nebeneinander Bestand hat, die Abstraktion und die Gegenständlichkeit, die Figürlichkeit und die Gestik, die Malerei und die aufgelösten Kunstformen. Sie weiss, dass das eine nicht für Fortschritt und das andere nicht für Rückschritt steht, und es keine medialen Anwälte mehr braucht, um vorzugeben, was an der bildhaft gewordenen Welt noch Anspruch auf Bedeutung erheben kann.
Die Grunderfahrung der Zeit ist die der inkommensurablen Verfügbarkeit. Alles liegt schon getan vor einem. Und wenn es auch nicht so ist, dass damit alle Rätsel gelöst und alle Geheimnisse gelüftet und alles Wissbare verstanden wäre, dann erlebt sich Bewusstsein, das keinerlei Utopien mehr verpflichtet ist, doch mitgerissen vom Strom der vermessenen Dinge und der unermesslichen Ereignisse. Und es behauptet sich, indem es da und dort andockt, dies und jenes besetzt, aussucht, verknüpft, kaleidoskopartig zusammenstellt, zum Netz aufspannt, aber nichts mehr aufzuhalten braucht wie die utopiegläubigen Generationen zuvor und nichts mit immer neuer Neuschöpfer-Grandiosität überbieten muss.
Alle Wege sind bezeichnet. Was ja nicht heisst, dass man nur noch den vorgespurten Pfaden folgen könnte. Noch immer gehört es zu den intelligenten Kulturtechniken, seine Wege selber zusammenzustellen. Trotz GPS. Das tritt mit keinem geringeren Anspruch an als mit umfassender Kenntnis aller Wegedaten. Und wer sich darauf verlässt, wird auch kaum sein Ziel verfehlen. Aber das bedeutet nicht, dass er gezwungen wäre, der Computerstimme zu folgen. Niemand verbietet ihm, Umwege zu fahren, seine eigenen Abkürzungen zu suchen. Er kann, wenn man so will, das GPS überlisten. Intelligente Malerei heute ist so etwas Ähnliches wie GPS-Überlistung. Mit List geht sie ihren Weg – mitten durch den Wahn der vollends erschlossenen Welt.
Welt, das sind die Bilder, die wir uns von der Welt machen. Sollte man bei Martin Kaspers Bildern sagen ‹gedämpfte Welt›? Ein wenig stumpf sieht diese Welt ja aus, trocken, leicht verschattet, entrückt, entfernt, durch ein opakes Okular gesehen. Und die Dinge erscheinen wie abwesend, nicht ganz hier zu sein, von weit hergeholt, aus der Erinnerung belichtet, festgehalten auf einem Film, der alle Töne nach Moll hin moduliert. Das schafft eine eigentümliche Stimmung. Aber die ‹gedämpfte Welt› ist kein romantisches Paradigma, kein Sehnsuchtsmotiv, indiziert nicht Traum oder Halbwachheit. Alles ist hier überaus bewusst. Keine Zufälle, nichts was einfach geriete, was wie von selbst so würde. Man muss das betonen, weil gerade die konstruierte Unschärfe das Zeitgenössische dieser Bilder ausmacht.
Malerei heute kann nicht mehr so tun, als ginge es noch immer darum, die Dinge einfach umzusetzen, sie von ihrem Dingsein in den Zustand des Gemaltseins zu heben. Sie weiss vielmehr, dass zwischen dem Dingsein und dem Gemaltsein immer schon das Bildsein ist, dass die Dinge nicht anders und nicht eigentlicher erfahrbar sind denn als Bilder. Auch Martin Kaspers gemalten Bildern gehen in der Regel fotografische Bilder voraus. Bilder aber existieren nicht in der stofflich begrenzten Form des Gegenstands mit festen Dimensionen und festen Bestimmungen. Bilder verweisen aufeinander. Sie sind immer zugleich Bilder von Bildern, existieren nur in der dynamischen Form der Referenz. Ihre Ränder verfliessen. Was zwischen den Rändern ist, bleibt vage, die Beziehung ist Unschärferelation. Das, nichts anderes meint die eigentümliche Unschärfe auf Martin Kaspers Bildern.
Wenn die Stopp-Signatur dieser Malerei – das zum malerischen Verhaltensmuster gehörende Anhalten, Leeren und Warten – als Metapher für Abständigkeit gelten darf, dann bietet solche Distanz eine doppelte Chance: für eine Neueinstellung der Sehschärfe und zugleich für die Wiederentdeckung der Dinge in der Unschärfe. Gerade im Abbau der Formen- und Dingfülle erlebt diese Malerei, wie die Formen und Dinge uneindeutig werden, magisch. Und dann thront der Bildschirm wie eine konstruktivistische Skulptur auf dem Sockel, und die futuristische Bar verwandelt sich in eine medizinische Apparatur und die U-Bahn-Station in ein Bühnenbild für ein melancholisches Einpersonenstück.
Und zum Schluss wird aus dem Einpersonenstück dann doch wieder ein Keinpersonenstück. Wie beim schmucklos grünen Gewölbe, von dem man nur sagen kann, dass es nicht aus feudaler Zeit stammt und ihm zum Green Cube die Winkeltreue fehlt. Mehr lässt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Es sei denn, man sagte es so unbestimmt, wie die Malerei im unscharfen Dazwischen bleibt, irgendwo zwischen alter und neuer Zeit. Wenn man es so sagen könnte, dann müsste man vielleicht sagen: Ein Raum, in dem niemand wartet, weil es längst Zeit geworden ist.
Hans-Joachim Müller